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Über den Placebo-Effekt – Warum fehlt eine Placebogruppe in den klinischen Studien zu Lenire?

Mann diskutiert in einem Büro am Schreibtisch

Insbesondere aus der Forschung zu Medikamenten kennen viele Menschen den Begriff des Placebos. Doch warum gibt es keine Placebogruppe in den klinischen Studien zur Tinnitus-Behandlung mit Lenire? Der nachfolgende Beitrag gibt einen grundlegenden Eindruck in das Thema und widmet sich der Frage, was Herausforderungen beim Einsatz von Placebos im Bereich der Medizintechnik sein können.

Was versteht man unter Placebos?

Unter Placebos fallen Medikamente, Geräte oder Behandlungen, die keine direkten therapeutischen Auswirkungen auf den Körper haben (Wager & Atlas, 2015). Im besten Fall imitieren sie die Interventionen in der jeweiligen klinischen Studie. Dazu können bspw. Geschmack, Aussehen und Verabreichung gehören.

Über den Placebo-Effekt

Von einem Placebo-Effekt spricht man, wenn es um den Unterschied zwischen der Reaktion auf ein Placebo im Gegensatz zu keiner Behandlung geht (Chaplin, 2006). Hierbei können soziale und kontextuelle, aber auch psychologische und biologische Faktoren eine Rolle spielen.

So hegen bspw. viele Menschen großes Vertrauen in das Können und Wissen von Ärzten. Sie gehen bereits aufgrund der Berufsgruppe davon aus, dass diese helfen wollen. Hier spielen soziale und kontextuelle Faktoren eine Rolle. Es entsteht die Annahme „Ich werde mich besser fühlen.“ Diese Erwartungen und das positive Mindset führt wiederum zur Ausschüttung von Neurotransmittern (biologische Faktoren) (Zion & Crum, 2018).

Wichtig ist, dass die Teilnehmer nicht wissen dürfen, dass sie sich in der Placebo-Bedingung befinden. Andernfalls würde sich diese Information auf die Faktoren auswirken und das Ergebnis ggf. verfälschen.

Placebo-Gruppen in klinischen Studien

Eine Placebogruppe meint eine Gruppe in einer klinischen Studie, die mit einem Placebo behandelt wurde. Dabei gibt es unterschiedliche Arten von Placebodesigns und -gruppen. Die wohl bekannteste Form kennen wir aus der Pharmaforschung. Hier wird die Placebogruppe mit einem Scheinpräparat behandelt, also einem Medikament ohne Wirkstoff.

Weitere Formen können sein:

  • Klassische Kontrollgruppe: diese Kontrollgruppe erhält keine Behandlung.
  • Wartelisten-Kontrollgruppe: diese Kontrollgruppe erhält während der Studie keine Behandlung. Diese wird erst nach Beendigung der Studie gestartet, dabei können starke Erwartungseffekte auftreten.
  • Treatment as usual: die Placebogruppe erhält eine herkömmliche Therapie gemäß der Behandlungsstandards, aber nicht die neue Therapie.
  • Aktiver Komparator: eine andere klinisch validierte Behandlung deren Wirkung erwartungsgemäß nicht signifikant von der experimentellen Behandlung abweicht

Warum fehlt die Placebogruppe in den klinischen Studien zur Tinnitus-Behandlung mit Lenire?

Eine Frau und ein Mann forschen in der Medizintechnik.

In der Medizintechnik sind Placebos eine Herausforderung. Ein Placebo müsste in diesem Fall wie das Behandlungsgerät aussehen und für die Patienten nicht vom tatsächlichen Gerät zu unterscheiden sein – also gleich wahrgenommen werden. Dies stellt, gegenüber der Entwicklung von Medikamenten, eine zusätzliche Herausforderung an die klinische Wissenschaft mit Medizinprodukten. 

Bei der Behandlung mit Lenire nehmen die Tinnitus-Betroffenen Klänge, wie auch eine elektrische Stimulation an der Zungenspitze wahr. Es müsste demnach eine Scheinbehandlung entwickelt werden, welches sowohl Klänge als auch die elektrische Stimulation der Zunge beinhaltet, gleichzeitig aber keinen Behandlungseffekt hat.

Sound Therapie Studien haben gezeigt, dass alleinige Klänge bereits einen therapeutischen Effekt haben (Cima et al., 2019). Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass  die Zungenstimulation ebenfalls therapeutische Effekte bei neurologischen Erkrankungen bewirken kann (Leonard, 2017). Um sicher zu gehen, dass keine spezifischen Behandlungseffekte mit einer Lenire-Placebo-Behandlung auftreten müsste dies Behandlung ohne Stimulation ablaufen. Dies würde die Studienteilnehmer jedoch entblinden und Erwartungseffekte können therapeutische Effekte überlagern.

Daher ist in den Studien zur Tinnitus-Behandlung mit Lenire lediglich der Vergleich mit einer Kontrollgruppe bzw. einer anderen Behandlungsform möglich.

Referenzen

Benedetti, F. (2020). Placebo effects. Oxford University Press.

Cima, R. F. F., Mazurek, B., Haider, H., Kikidis, D., Lapira, A., Noreña, A., & Hoare, D. J. (2019). A multidisciplinary European guideline for tinnitus: diagnostics, assessment, and treatment. Hno, 67(1), 10-42.

Leonard, G., Lapierre, Y., Chen, J. K., Wardini, R., Crane, J., & Ptito, A. (2017). Noninvasive tongue stimulation combined with intensive cognitive and physical rehabilitation induces neuroplastic changes in patients with multiple sclerosis: A multimodal neuroimaging study. Multiple sclerosis journal – experimental, translational and clinical, 3(1), 2055217317690561. https://doi.org/10.1177/2055217317690561

Locher, C., Gaab, J., & Blease, C. (2018). When a placebo is not a placebo: problems and solutions to the gold standard in psychotherapy research. Frontiers in psychology, 9, 2317.

Wager, T. D., & Atlas, L. Y. (2015). The neuroscience of placebo effects: connecting context, learning and health. Nature Reviews Neuroscience, 16(7), 403–418. https://doi.org/10.1038/nrn3976

Zion, S., & Crum, A. (2018). Mindsets Matter: A New Framework for Harnessing the Placebo Effect in Modern Medicine. Undefined; https://www.semanticscholar.org/paper/Mindsets-Matter%3A-A-New-Framework-for-Harnessing-the-Zion-Crum/fec844e1606733b84f57c2ee8a18b63e106df77d